reclining

… Ganz speziell waren es Henry Moore und seine modellierend weichen, sphärischen Formen, die den Künstler fasziniert hatten. Er wollte einen Weg finden, Henry Moores plastische Virtuosität in die eigene Malerei zu übertragen und so stets eine dritte Dimension, eine Verräumlichung mitzudenken. Und das alles ohne sich zentralperspektivischer Mittel zu bedienen, welche seit der Renaissance Raumillusionen auf konstruktive Weise erzeugen. So entstanden Linien- und Bänderverläufe aus opak bis transparent angelegtem Farbauftrag auf durchgehend in Schwarztönen gehaltenen, monochromen Grundierungen. Diese Schwarzgründe wirken wie Bühnen für das jeweils davorliegende Farbgeschehen.

Damit sind die subjektiven Raumkoodinaten definiert. Johannes Braig beginnt seine Werkserie reclining mit Schwarzweiß-Gemälden. Er verwendet dünnflüssigen und lasierend weißen Acryllack auf schwarzem Grund. Er geht offensichtlich intuitiv an die Umsetzung, ohne Plan und Vorzeichnung, aber mit einer inneren Vorstellung. Johannes Braigs Malerei hat mit ihren reduziert einfachen Formmotiven eine auffällig grafische Wirkung. Die Grafik jedoch verliert sich mehr und mehr hinter einem stark modellierenden Duktus. Trotzdem bleibt sie als Zeile, Spur oder Gerüst erhalten. Kreis und Oval, Quadrat und Rechteck werden zu Symbolen für Auge, Okular und Display. So scheint uns jedes Bild aus vielen Augen – blasig und submarin – anzusehen. Es möchte uns vermitteln, dass es als Porträt verstanden werden will.

Dass es tatsächlich Porträts sind, vor denen wir stehen, kann sich nur langsam erschließen, zu raffiniert sind sie angelegt. Dabei scheint der grobe Aufbau eines Gemäldes schnell klar zu sein. In frei geführten Zeilen und Rubriken organisiert Johannes Braig zunächst eine Art Leserichtung. In den meisten Fällen eine von links oben nach rechts unten. Diese freien, unscharfen Koordinaten dienen als Hilfskonstruktion, aus der so etwas wie Raster und Muster entstehen können. Es sind jedoch in der Hauptsache die Farben, welche die Raumverhältnisse organisieren. Es entstehen Bildareale, die an die Malerei von Künstlern wie etwa Wassily Kandinsky, Gustav Klimt, Claude Monet und James Ensor erinnern. Jugendstilartige bis expressionistische Zitate, die isolierbar sind und von Johannes Braig durchaus als Verbeugung vor den Vorbildern gedacht sind. Bei dieser Gemengelage könnte man auch gleich noch den Einfluss von Jean Dubuffet oder Raoul Dufy mitassoziieren.

Wer sich also die Optik der Kunst der Art brut, der Raw Art oder der sogenannten Outsider-Kunst vergegenwärtigt, kann, wenn es nötig sein sollte, den kunstgeschichtlichen Hintergrund der Malerei Johannes Braigs besser einordnen. Es geht in dieser Art Außenseiter-Kunst in erster Linie um ein unverstelltes Zugehen auf die Malerei. Das Ideal wäre eine Malerei ohne akademischen Ballast, wie es eine im besten Sinne kindlich-kreative Sicht hervorbringen kann. Dass in einem solchen Verständnis von Kunst vor allem auch Witz und Humor zum Zuge kommen können, beweist Johannes Braig mit seinem gesamten Werk. Er kann einen jederzeit subtil bis charmant an der Nase herum führen.

Aber lehnen wir uns – nach dem Motto der Ausstellung – wieder zurück: Das Assoziationsfeld von reclining ist im Deutschen etwas weiter gefasst als im Englischen. Damit lässt es sich gut spielen. Die Bedeutungen gehen vom antiken Liegesofa, der Kline (man denke an Klinik), über die Chaiselongue bis zum profanen Liegestuhl oder gleich zum Bett, ja, in letzter Konsequenz bis zum Sarg. Reclining lässt also generell an Ruhemöbel denken, auf denen sich bekleidete oder unbekleidete Personen in Präsenzplicht zurücklehnen, ausruhen oder possieren, um gemalt oder fotografiert zu werden. Eine Assoziationskette wäre etwa: liegen – lagern – ausruhen – passiv – wehrlos – tot …




Johannes Braig – reclining
Ausstellung Alte Kirche Mochenwangen
Auszug aus der Rede zur Eröffnung von Dr. Herbert Köhler [aica], Kunst- und Kulturpublizist