… Das Fragen nach der Kunst, das unsere Zeit mit leidenschaftlicher Entdeckerfreude betreibt, hat viele Ursachen. Es setzt voraus, daß das Kunstwerk frag-würdig wurde, sich nicht mehr von selbst versteht, von seinen Aufgaben und Funktionen nicht mehr hinlänglich beglaubigt wird. Vorerst mußte sich also in unserer Einstellung zum Kunstwerk etwas ändern, ehe Bilder und Plastik in den Brennstrahl der Reflexion geraten konnten. Erst seit verhältnimäßig kurzer Zeit – seit der Renaissance, noch intensiver seit der Romantik – wird das Kunstwerk der Verwissenschaftlichung ausgesetzt – das Wort ist ebenso kompliziert wie der Prozess, den es meint –, wird es von Fragen umstellt und in das Gehege von Interpretationen gelockt, die einander die Gültigkeit bestreiten.
Das bedeutet, daß die bisherigen Bestimmungen des Kunstwerks – vornehmlich seine sakralen und dekorativen Funktionen – zurücktreten, daß sich dem Betrachter ein funktionsfreier Raum öffnet, eine Art Niemandsland, das erst allmählich von der ästhetischen Interpretation ausgemessen, begrifflich in Besitz genommen und als das erkannt wird, was es wirklich ist: die Zone, in der das künstlerische Schaffen, auf der Suche nach seiner Selbstbestimmung, sich selbst befragt, oder, weniger überspitzt formuliert, die Zone, in der das Kunstwerk frag-würdig wird. …
(aus: Werner Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst)
