Auszug aus der Eröffnungsrede von Andrea Dreher in Erolzheim














… Doch was ist, wenn Sehnsucht und Wirklichkeit aufeinander treffen, wie in den jüngeren Arbeiten dieser Ausstellung geschehen. Stellvertretend hierfür sei das Titelmotiv „Der Kunde ist König“ genannt?
 
Ein Auslöser für diese neue Werkserie waren die großformatigen Porträtfotos des deutschen Fotokünstlers Thomas Ruff und dessen passbildhafte Riesenaufnahmen von über zwei Metern Höhe. Charakteristisch für Ruffs Fotoarbeiten sind die Frontalsicht, fehlende Schatten und höchste Detailschärfe. Ruff erstellt Fotos wie Fahndungsbilder. Nichts bleibt dem Betrachter verborgen, keine Pore, kein Pickel. Ruff nutzt keine Weichzeichner, er verschönt nichts. Diese Einstellung teilt er mit Johannes Braig, der uns seit Jahren regelmäßig den imaginären Spiegel vors Gesicht hält. Komplementär zu seinen Sehnsuchtsbildern entstanden diese Bilder von Köpfen, deren expressive Mimik gnadenlos radikal ist.
 
Begegnen wir einem Menschen, so stellt sich neben der Frage nach der Wirklichkeit im Bild stets die Frage nach der Illusionswirkung unseres eigenen Blicks: Was gaukeln wir uns vor, wenn wir Menschen „auf den ersten Blick“ beurteilen? Sehen wir die Realität? Oder eher das, was wir sehen wollen?
 
Braigs großformatige Köpfe sind eine dezidierte Abkehr vom linearen Stil und eine Hinwendung zum malerischen Stil. Die Linie hat als Ordnungselement ihre Funktion an die Farbe abgegeben, mehr noch, die Farbe besetzt nicht mehr nur die Bildfläche, sondern sie springt dem Auge des Betrachters förmlich entgegen. In den Kopf-Bildern herrscht eine objekthafte Präsenz der Farbe vor. Die Leinwände sind teils plastisch ausgearbeitet und der starke Duktus des Künstlers zeugt von einer klaren Verortung dieser Bilder im Hier und Jetzt.
 
Kann die titelgebende Hommage an den Rokoko auch in diesen Kopf-Bildern greifen, bei denen es um klare Ansagen zu gehen scheint? Ja, denn in der Kunst des Rokoko stand nicht nur das Spiel mit Dekoration und Kulisse im Vordergrund, sondern im Rokoko wurde auf größtmögliche Bildwirkung Wert gelegt.
 
In ihrer Wirkung sind diese Köpfe nicht minder stark als die schemenhaften Figurationen. Ähnlich wie die Figuren entziehen sich auch die Köpfe einer eindeutigen Lesbarkeit im Bild. Diese Gesichter offenbaren ein Stück Wirklichkeit, sie sind entschieden subjektiv, radikal ehrlich, aber zugleich expressive Malerei und kein Fotorealismus. Als ihr Gegenüber werden wir Betrachter in andere Gedankenräume katapultiert, ohne diesen Prozess rational und bewusst steuern zu können. …
Andrea Dreher M.A.
Sind Künstler Sinngeneratoren?

Ausstellung bei Oberwelt e.V.
Reinsburgstrasse 93, Stuttgart

www.oberwelt.de 



Ich habe nie behauptet, dass Sie das nicht auch können! Aber warum sollten Sie es tun?

In Johannes Braigs Textbildern kommt eine tiefe Verunsicherung gegenüber dem eigenen künstlerischen Tun und den von der Gesellschaft aufgestellten Kunstparametern zum Vorschein. Sie stellen eine visualisierte Reflexion des Künstlers dar, die den Betrachter auf den ersten Blick an selbstgemachte Schilder erinnern, wie sie manchmal an einer Hofdurchfahrt auf dem Land zu finden sind.

Ein Schild gibt einen Hinweis oder eine Warnung. Auf jeden Fall übermittelt es an den Schauenden eine Information. Der moderne Mensch bewegt sich täglich in einem großen Schilderwald, der ihm in komprimierter Form den Weg zu seinen Bedürfnissen weist. Johannes Braig fügt diesen Zeichen seinen persönlichen Schilderwald hinzu. Buchstaben von selbstgemachten Schablonen übertragen, akribisch von Hand ausgemalt, manchmal mit farbigem Übermut überschüttet, geben tiefgründig banalisierte Weisheiten der künstlerischen „Aktivitätsmaschinerie“ bekannt.

Die bildende Kunst birgt die großen Geheimnisse unseres bildlichen Erbes. Der Künstler beschaut die großen Taten seiner Vorfahren und je länger er das tut, desto fraglicher wird, wie sein Beitrag zu diesem Erbe aussehen kann. Johannes Braig reagiert auf seine Weise: Selbstbefragungen auf Leinwand und Holzbrettern, die vom Kunsteifer befreien sollen, dann aber direkt in die Kunst zurückführen.

So wird aus der Reflexion über Kunst direkt wieder Kunst. Gedankenrecycling in eherne Kunstform gegossen, die auf die Ewigkeit hofft.

… Alle geistige Tat ist ein Halt-Suchen vor der unfaßbaren, allem Denken ewig entgleitenden Fragwürdigkeit des Lebens: ein Halt-Suchen durch die schöpferische Gestaltung im Glauben religiöser Ergriffenheit, im Wissen rationaler Erkenntnis, in reiner Anschauung künstlerischer Formung. …
Dagobert Frey, Kunstwissenschaftliche Grundfragen
Nirgendland

In der Wort-Nuss-Schale U-TOPOS, Utopia, liegt neben "Nirgendland" die Einflüsterung einer genaueren Topographie. Deshalb durchbrachen die alten Erdichter von Harmoniestaaten die Schallmauer der unvollkommenen Wirklichkeit und verpflanzten ihre Utopien auf Inseln, Sonne, Mond und Sterne. Denn irgendwo muss Nirgendwo doch sein, Landkarten mußte es dort so zuverlässig geben wie Berichte und Gemälde. Exakt liegt Utopia im Schnittpunkt des verlorenen Paradieses, des Goldenen Zeitalters, der Insel der Seeligen und der machbaren Wohlstandsreiche. …
(Eugen Skasa-Weiß)
Nie mandsl and

Katalog
(No Man’s Land –Terrain neutre)

Texte: Andrea Dreher, Gerhard van der Grinten
Text: deutsch/englisch/französisch
128 Seiten mit 85 farbigen Abbildungen
23 x 27 cm. Leinen mit Schutzumschlag

Ernst Wasmuth Verlag GmbH & Co. Tübingen • Berlin
ISBN: 978 3 8030 3346 8

Preis: 24.80 € inkl. MwSt. zzgl. Versand

Hemmungslos entleert Johannes Braig Farbtöpfe auf Leinwände, tiefgründig banalisiert er Weisheiten der „Aktivitätsmaschinerie“ des Kunstbetriebs. Zudem schafft er eine ästhetisierende Figuration, in der er sich bewusst an das oberschwäbische Barock anlehnt.
Was auf den ersten Blick als nicht zu vereinender Gegensatz erscheint, verbindet sich bei ihm zu einer spannungsreichen Symbiose. Das Buch Niemandsland zeigt einen Überblick seiner künstlerischen Arbeit der letzten zehn Jahren.